Praxis
für Traditionelle Chinesische Medizin
Ue-ying Pen |
Chinesische Medizin besser verstehen
„Der Schlüssel
zur Gesundheit liegt darin, Yin und Yang des Körpers zu regulieren“
(aus „Klassiker des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin“)
Die Grundlagen der chinesischen Medizin sind in den umfangreichen Lehren von „Qi", „Yin und Yang" und den „Fünf Elementen" zusammengefasst. Begriffe wie Yin und Yang klingen jedoch hierzulande für die meisten seltsam mystisch oder zumindest fremd. Genauer betrachtet drücken sie jedoch die grundlegenden Säulen des recht komplizierten, aber durch und durch logisch aufgebauten Systems aus, auf dem die chinesische Medizin basiert.
Yin und Yang – ein universelles Prinzip
Das theoretische Fundament der chinesischen Philosophie, vornehmlich des Daoismus,
ist gleichzeitig das der chinesischen Medizin. Im Vordergrund steht die Erkenntnis,
dass alles um uns herum – Mensch, Natur, Umwelt, Universum - nur deshalb
existiert, weil es aus Gegensätzen besteht. Genauer: aus zwei entgegengesetzten
Spannungsfeldern, deren Pole Yin und Yang genannt werden. Ohne Yin ist kein
Yang möglich und umgekehrt. Yin und Yang beschreibt demnach ein universelles
Kräfteprinzip, aus dem gerade deshalb die Dynamik und Urkraft – das
Qi - aller Vorgänge entsteht, weil es sich um Gegensätze handelt.
Kein Pol kann auf Dauer ohne seinen Gegenpart existieren, denn sie ergänzen
und bedürfen einander. Gleichzeitig gleichen sich Yin und Yang ständig
gegenseitig aus. Alles Existierende ist im Idealfall harmonisches Ergebnis der
Zusammenführung dieser Gegensätze.
Sind die gegensätzlichen Ladungen von Protonen und Elektronen ausgeglichen,
ist ein Atomkern stabil. Nur ein bestimmtes Maß von Regen und Trockenheit,
von Hitze und Kälte ermöglicht organisches Leben. Alle Pflanzen und
Tiere bedürfen des Wechselspiels von Tag und Nacht. Im männlichen
Körper gibt es eine Minderzahl weiblicher Hormone und umgekehrt. Ohne eine
Zeit der Ruhe ist keine Aktivität möglich - Anspannung und Entspannung.
Yin und Yang steht somit nicht für einen mystischen Glauben, sondern für
die tatsächliche innere Gesetzmäßigkeit, für das oberste
Prinzip alles Existierenden. Wie die Monade, das Yin-Yang-Symbol, veranschaulicht,
enthält jede Erscheinung immer auch ein ausgleichendes Element seines Gegensatzes.
Yin und Yang in der chinesischen Medizin
Im Einklang mit der Philosophie definiert die chinesische Medizin
den Menschen als Mikrokosmos im Makrokosmos. Wie in der Natur, wirkt das polare
Spannungsfeld der Kräfte von Yin und Yang - das Qi - ebenso im menschlichen
Organismus.
Nach traditioneller Lehre ist unser gesamter Körper von Leitbahnen –
Meridianen – durchzogen. In Ihnen fließen ständig entgegengesetzte
Energieströme (Yin und Yang). Sie können zur besseren Anschauung vielleicht
am ehesten mit plus und minus bzw. mit der Stromstärke einer elektrischen
Leitung verglichen werden. Das Qi sammelt sich letztendlich in den Organen und
bestimmt die Leistungs- und Funktionsfähigkeit jedes einzelnen Organs bzw.
seines jeweiligen Wirkungsbereichs und damit auch die unseres gesamten Organismus.
Jedem Organ wird im Körper ein eigener Meridianverlauf mit einer definierten
Yin- oder Yang-Polarität zugeordnet. Darüber hinaus bildet jedes Organ
jeweils mit einem anderen im Körper eine funktionelle Einheit, wobei der
Meridian eines Organs an seinem Ende in die „Partnerleitbahn“ mit
entgegengesetzter Polarität übergeht. So wechselt beispielsweise der
Yin-Meridian der Lunge in den Yang-Meridian des ihm zugeordneten Funktionskreises
des Dickdarms über. Die Funktion von Lunge und Dickdarm etwa wird also
gesteuert über das gleichgewichtige und harmonische Zusammenspiel dieser
beiden energetisch gegensätzlichen Yin- Yang-Meridiane.
Beim gesunden Menschen bilden die komplementären Energieströme in
den Meridianen eine auf Gleichgewicht aufgebaute und harmonische Dynamik, die
alle Organsysteme im Körper wie Zahnräder zusammenarbeiten lässt.
Weitere Beispiele zum Verständnis von Yin und Yang in der chinesischen
Medizin finden Sie hier.
Wie entsteht Krankheit?
Neben der Einteilung in Yin- und Yangstrukturen fasst die chinesische
Medizin den Wirkungsbereich eines Organs wesentlich weiter als die Schulmedizin.
Sie spricht deshalb nicht von der Funktion eines Organs, sondern von seinem
Funktionskreis. Einer der wichtigsten Unterschiede besteht hierbei darin, dass
die chinesische Medizin jedem Organ zusätzlich funktionell auch einen bestimmten
Teil des menschlichen Gewebes zuordnet. So etwa die Haut der Lunge, weshalb
Hautkrankheiten vorwiegend über Punkte auf dem Lungenmeridian bzw. auf
dem mit ihm gekoppelten Dickdarmmeridian behandelt werden. Auch betrachtet die
chinesische Medizin den Zustand einzelner Organbereiche als ursächlich
für die Ausprägung bestimmter Gefühlszustände wie Angst,
Grübeln, überschäumende Wut oder Depressionen. Als weiterer Unterschied
zur Schulmedizin geht die chinesische Lehre davon aus, dass jeder Funktionskreis
eines Organs nach einem hierarchischen System wiederum auf den nächsten
Einfluss hat. So entsteht ein großer Kreislauf mit wechselseitigen Kontroll-
und Steuerungsmechanismen.
Die Energieströme in den Meridianen unseres Körpers unterliegen jahres-
sowie lebenszeitlichen Veränderungen. Weitere äußere oder innere
pathogene Faktoren können dafür verantwortlich sein, dass der ordnungsgemäße
Fluss des Qi in einem Meridian behindert wird, eine Polarität überhand
nimmt oder zu gering wird. In Folge entsteht eine energetische Disharmonie,
die zu Krankheit führt. Man spricht dann beispielsweise von einem Yin-Mangel
der Lunge oder einem Yang-Überhang im Leberbereich.
Eine Krankheit entsteht nach chinesischer Lehre demnach immer dann, wenn der
Körper nicht mehr selbst in der Lage ist, ein energetisches Ungleichgewicht
zu kompensieren. Zunächst ist lediglich das jeweilige Organ bzw. der spezifisch
zugeordnete Gewebebereich mit typischen Krankheitssymptomen betroffen. Da jedoch
alle Organsysteme im Sinne eines kybernetischen Systems zusammenarbeiten, wird
sich eine länger anhaltende Störung in einem Bereich auch auf den
nächsten auswirken.
Was tut ein chinesischer Arzt?
Die Aufgabe des chinesischen Arztes besteht zunächst darin,
bei einem Krankheitsbild individuell und genau herauszufinden, in welchem Organsystem
die ursächliche Störung vorliegt und welche lediglich als Folgewirkung
betroffen sind. Ein diagnostiziertes Ungleichgewicht – ein Disharmoniemuster
– wird er beheben, indem durch Manipulation bestimmter Punkte oder durch
Kräuter ein Yin-Mangel oder ein Yang-Überhang so korrigiert wird,
dass wieder ein harmonisches Zusammenspiel aller polaren Energieströme
im gesamten Körper entsteht – der kranke Mensch wird wieder gesund.
Sicherlich wird ein chinesischer Arzt anstreben, akute Symptome möglichst
schnell verschwinden zu lassen. Doch will er den Körper des Patienten als
Ganzes betrachten und gleichzeitig die tatsächliche Ursache bekämpfen.
Also Ungleichgewichte nachhaltig und im gesamten Organismus beseitigen.
Die chinesische Medizin benennt etliche Krankheitsbilder mit Bezeichnungen,
die in der Schulmedizin oft nur unter einem Namen geführt werden. So hat
beispielsweise eine am Rücken auftretende Gürtelrose einen anderen
Namen, als eine, die im Gesicht auftaucht. Dies mag verwunderlich erscheinen,
ist jedoch konsequentes Resultat der Suche nach einem bestimmten Disharmoniemuster.
Schließlich liegt nach chinesischer Auffassung bei einer Gürtelrose
am Rücken eine andere energetische Störung vor, als im Gesicht und
erfordert dementsprechend eine unterschiedliche Behandlung.
Aus dem Gesagten ergibt sich folgerichtig, dass chinesische Medizin selbst bei
der Bekämpfung von Symptomen sehr grundsätzlich auf Nebenwirkungen
verzichten will. Denn was soll es im Sinne einer ganzheitlichen Therapie bringen,
wenn die energetische Struktur an der einen Stelle zum Positiven hin korrigiert
wird, dafür aber aufgrund medikamentöser Nebenwirkungen an anderer
Stelle wieder ein anderes Ungleichgewicht entsteht?